EUROplast “Kunst­stoffe” Ausgabe 10/ 98

Auf den Punkt gebracht

Optimale Angusslage und Anschnittform für Kunststoffteile

Langjäh­rige, oft sehr kostspie­lige Praxis­er­fah­rungen zeigen, daß die meisten Fehler bei der Werkzeug­aus­le­gung im Bereich der Ansprit­zung gemacht werden. Kosten­in­ten­sive Korrek­turen können vermieden werden, wenn eine Konstruk­tions-Check­liste im Vorfeld der Werkzeug­kon­zep­tion syste­ma­tisch durch­ge­ar­beitet wird. Der Praktiker mit entsprech-ender Berufs­er­fah­rung kennt und beachtet sicher alle hier erwähnten konstruk­tiven Gesichts­punkte. Dennoch kommt es im Tages­ge­schäft immer wieder zu banalen Fehlern, deren Anzahl durch konse­quentes Arbeiten mit den hier zusam­men­ge­stellten Fragen (Tabelle 1) reduziert werden kann. Wird nur eine dieser Fragen mit “nein” beant­wortet, so kann dies bereits zu nachträg­li­chen, teuren Änderungen am Werkzeug führen. Die Check-liste kann auch in eine Fehler-Möglich­keits-und-Einfluß­ana­lyse (FMEA) für die Werkzeug-konstruk­tion einge­ar­beitet werden. Die einzelnen Problem­stel­lungen werden im folgenden erläu­tert.

Wirtschaftlichkeit

Falls zum Entfernen des Angusses Nachar­beit erfor­der­lich ist, muß dies in der Kalku­la­tion des Teile­preises berück­sich­tigt werden. Das gebräuch­lichste selbst­ab­tren­nende Anguss-system mit nur einer Trenn­ebene, das vollau­to­ma­tisch betrieben werden kann, ist der Tunnel­an­guss. Die optimale Anschnitt­form in Hinblick auf die schonende Materi­al­ver­arbei-tung ist der Stangen­anguß, der jedoch material- und nachbe­ar­bei­tungs­in­tensiv ist und durch die Verlän­ge­rung der Kühlzeit die Herstel­lungs­kosten erhöht.

Optische Gesichtspunkte

Oft kann die aus techni­scher Hinsicht optimale Anguß­stelle nicht reali­siert werden, weil das Teil an dieser Stelle anspruchs­volle optische Anfor­de­rungen erfüllen muß. Unter Umständen kann die Verwen­dung einer Nadel­ver­schluß­düse erwogen werden.

Formfüllung

Das Verhältnis von Fließweg und Wanddi­cken muß eine komplette Formfül­lung ermög­li­chen. Hier haben sich neben komplexer Simula­ti­ons­soft­ware die von den Rohstoff­her­stel­lern angebo­tenen Fließ­kurven bewährt. Diese lassen – unter Umständen ergänzt mit der graphi­schen Füllbild­me­thode – eine erste zuver­läs­sige Überprü­fung der Formfül­lung zu, solange es sich um relativ einfache Geome­trien mit gleich­mä­ßigen Wanddi­cken handelt.

Bindenähte

Binde­nähte sollten in den Berei­chen des Spritz­guß­teils liegen, an denen sie nicht zu Festig­keits­pro­blemen führen können. Bei komplexen Formteilen kann sich eine Formfüll-studie zum Auffinden der Binde­naht­be­reiche lohnen. Durch ein Anguß­system mit Kaska­den­schal­tung können Binde­nähte vermieden werden, dies erhöht jedoch die Werkzeug­kosten erheb­lich.

Lufteinschlüsse

Es muß sicher­ge­stellt sein, daß die in der Kavität befind­liche Luft entwei­chen kann. Es empfehlen sich Luftnuten an allen Auswer­fern sowie eine umlau­fende Entlüf­tungsnut um die ganze Werkzeug­ka­vität, die nach außen angebunden ist. Auswerfer sind die beste Entlüf­tungs­form, weil sie sich durch ihre Bewegung selbst reinigen. Demge­gen­über haben Sinter­ein­sätze oder Kapil­lar­ein­sätze den Nachteil, daß sie durch Ausga­sungen des Werkstoffs schnell verstopfen und dadurch die Produk­ti­ons­si­cher­heit leidet.

Freistrahlbindung

Zur Vermei­dung eines Freistrahls muß die Ansprit­zung gegen eine Werkzeug­wan­dung und nicht in die freie Kavität erfolgen. Es handelt sich hierbei um einen eigent­lich banalen Fehler, der dennoch häufig beobachtet wird (Bild 1). Die Freistrahl­bil­dung kann zwar durch das Einspritzen mit Profil abgemil­dert werden, diese Modifi­ka­tion des Einsprit­zens sollte jedoch der Optimie­rung des Prozesses vorbe­halten sein und nicht dazu dienen, Werkzeug­fehler zu kaschieren. Das Werkzeug muß notfalls durch einen Hilfs­kern in der Form ergänzt werden. Eventuell kann dieser in der Nachdruck­phase zurück­ge­zogen werden.

Bild 1: Einspritzen in die freie Kavität führt zu einer Ausbil­dung eines Freistrahls anstelle einer Schmel­ze­front
Schererwärmung

Die Scherung des thermo­plas­ti­schen Materials beim Einspritzen darf nicht zu extremer Erhit­zung einzelner Werkzeug­par­tien führen. Zur Vermei­dung hoher Tempe­ra­turen sollten in Anschnitt­nähe Tempe­rier­ka­näle vorge­sehen werden. Wenn es mit der Werkzeug­kontur und ‑funktion vertretbar ist, sollte gegen­über dem Anspritz­punkt eine Tempe­rier­boh­rung möglichst mit einem separaten Anschluss vorge­sehen werden, damit man hier gezielt die Scher­wärme abführen kann. Im Anspritz­be­reich von Heißka­nal­düsen muß grund­sätz­lich eine Tempe­rier­boh­rung liegen, um den zwangs­läu­figen Wärme­über­schuß der elektrisch beheizten Düse abführen zu können.

Scherbelastung

Die Anschnitt­geo­me­trie (z.B. Tunnel­anguß) darf nicht zu einer so hohen Scher­be­an­spruch-ung führen, daß das verar­bei­tete Material geschä­digt wird. Grund­sätz­lich sollte der Anschnitt daher so groß wie möglich ausge­führt werden. Eventuell kann ein Anschnitt auch in zwei oder mehr Anschnitte geteilt werden, um die Scherung zu reduzieren. Dabei muss die Bildung einer Binde­naht zwischen den Anschnitten berück­sich­tigt werden. Die Entwick­lungen im Heißka­nal­be­reich, vor allem von außen­be­heizten Systemen, lassen inzwi­schen auch die Verar­bei­tung von relativ tempe­ra­tur­emp­find­li­chen Werkstoffen zu. Eine weitere, noch selten einge­setzte Möglich­keit sind flüssig­keits­tem­pe­rierte Heißka­nal­sys­teme.

Ausbalanciertes Angusssystem

Bei Mehrfach­werk­zeugen oder Teilen mit mehrfa­chen Anschnitten muß das Anguss­system natür­lich ausba­lan­ciert werden. Falls dies nicht möglich ist, muß eine Formfüll­studie zur Ermitt­lung abgestufter Vertei­ler­quer­schnitte durch­ge­führt werden (Bild 2). Generell sollte ein natür­lich ausba­lan­ciertes Anguß­system – egal ob heiß oder kalt – Verwen­dung finden und nur in Ausnah­me­fällen eine Balan­cie­rung über diffe­ren­zierte Vertei­ler­quer­schnitte erfolgen, da die Visko­sität der Kunst­stoff­schmelze von der auftre­tenden Scherung und der Tempe­ratur abhängt. Damit ist die Balan­cie­rung nur in einem, nämlich dem berech­neten Punkt, exakt. Wenn die Verar­bei­tungs­pa­ra­meter nachkor­ri­giert werden, so ist in aller Regel auch eine Korrektur der Querschnitte unumgäng­lich.

Ausbalanciertes Angusssystem
Bild 2: Beim nicht natür­lich ausba­lan­cierten Anguß­system muß auf abgestufte Vertei­ler­quer­schnitte geachtet werden
Hesitation-Effekt

Zur Vermei­dung des Einfrie­rens der Fließ­front durch den Verzö­ge­rungs­ef­fekt (Hesita­tion- Effekt) muß die Formfül­lung von großen Wanddi­cken in Richtung kleine Wanddi­cken erfolgen. Dünnwan­dige Partien in Anguß­nähe (z.B. Filmschar­nier) sollten vermieden werden. Die alte Regel der Kunst­stoff-Bauteil­kon­struk­tion gleich­mä­ßige Wanddi­cken zu bevor­zugen, hat hier Ihre Berech­ti­gung. Bei unter­schied­li­chen Wanddi­cken fließt die Schmelze erst den Weg des geringsten Wider­stands, das heißt in Richtung der größeren Wanddicke. Die Schmelze verharrt jedoch dann an den Partien der kleineren Wanddi­cken, bis sich genügend Druck aufge­baut hat. Die Scher­ge­schwin­dig­keit geht durch den Masse­still­stand gegen Null und die Schmel­ze­front friert aufgrund ihrer Struk­tur­vis­ko­sität ein (Bild 3).

Bild 3: Das Einfrieren der Schmelze durch den Hesti­ta­tion-Effekt führt zu unvoll­stän­diger Formfül­lung im dünnwann­digen Bereich
Nachdruck

Zur Vermei­dung von Lunkern, Einfall­stellen etc. muß ein ausrei­chender Nachdruck gewähr­leistet sein. Die Anguß­lage sollte deswegen so gewählt werden, daß man an einer dicken, zu Einfall­stellen neigenden Wand anspritzt. Eine andere Möglich­keit ist es, Fließ­hilfen zwischen Anguss und Masse­an­häu­fungen einzu­bringen, um die Nachdruck­ver­sor­gung sicher­zu­stellen.

Verzug

Durch optimale Wahl der Anguss­lage (z.B. Ansprit­zung eines Lineals an der schmalen Seite) kann Verzug weitge­hend vermieden werden. Vor allem bei faser­ver­stärkten Materia­lien, aber auch bei teilkris­tal­linen Thermo­plasten ohne Verstär­kung, ist es wichtig, die Frage des poten­ti­ellen Verzugs mit in die Auswahl der richtigen Anspritz­stelle einfließen zu lassen. Oft wirken auch mehrere Anschnitte oder ein Filman­guss verzugs­ver­min­dernd.

Bilder: Europlast Ep-Kunst­stoff­technik GmbH

Autor

Dipl.-Ing. Elmar Nachts­heim, geb. 1959, war nach der Ausbil­dung zum Werkzeug­ma­cher als Konstruk­teur bei Zeller Plastik KG, Zell/Mosel, tätig. Nach dem Studium der Kunst­stoff-technik an der FH-Darmstadt war er für den Geschäfts­be­reich Spritz­gieß­technik bei Formplast-Reichel GmbH, Besig­heim, verant­wort­lich. Seit 1998 ist er Geschäfts­führer der Europlast Ep-Kunst­stoff­technik GmbH, Ilsfeld.

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